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19.09.2006: Leben ohne Mund, Magen und Darm

Wie ein kleiner Wurm sein Überleben mit Hilfe von Bakterien sichert
 
Leben ohne Mund, Magen und Darm
Wie ein kleiner Wurm sein Überleben mit Hilfe von Bakterien sichert

Es gibt kaum Pflanzen oder Tiere, die für sich allein leben, denn fast alle Lebewesen werden von Mikroorganismen besiedelt, die für ihre Entwicklung, Gesundheit, und ihre Wechselbeziehungen mit der Umwelt unentbehrlich sind. Oftmals schützen diese Mikroorganismen ihren Wirt vor dem Befall durch schädliche Keime; eine Funktion, wie sie von der mikrobiellen Flora der menschlichen Haut her bekannt ist. Viele Mikroorganismen haben jedoch weiter reichende nützliche Funktionen für ihre Wirte, indem sie z.B. bei der Erschließung oder Verdauung von Nährstoffen helfen. Der Wirt seinerseits bietet den ihn besiedelnden Mikroorganismen geeignete Lebensbedingungen. Solche engen gegenseitigen Vorteilsgemeinschaften nennt man Symbiosen.

Eine solche Symbiose detailliert zu untersuchen, ist oftmals eine besondere Herausforderung, da sich die meisten symbiontischen Mikroorganismen nicht isoliert züchten lassen. Erst neuere genomische Analysen haben es möglich gemacht, einen besseren Einblick in das komplexe Zusammenspiel von Wirten und Symbionten zu gewinnen. Diese Verfahren wurden jedoch bislang lediglich auf einfache Symbiosen mit nur einer Art von Symbionten angewandt.

Forschern vom Bremer Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie und vom Joint Genome Institute in den USA ist es jetzt jedoch gelungen, die Genome von gleich vier bakteriellen Symbionten aus dem Inneren des marinen Wurms Olavius algarvensis mit Hilfe einer so genannten Metagenomanalyse zu entschlüsseln. Damit ist diese die bislang größte Studie dieser Art an einer symbiontischen Lebensgemeinschaft und bildet einen wichtigen Grundstein für die Analyse anderer komplexer Symbiosen, wie zum Beispiel der Endflora des menschlichen Darms. Durchgeführt wurde diese Arbeit von zahlreichen Wissenschaftlern am Bremer Max-Planck-Institut unter der Leitung von Dr. Nicole Dubilier in enger Zusammenarbeit mit Dr. Tanja Woyke und Kollegen vom Joint Genome Institut unter der Leitung des dortigen Direktors, Dr. Eddy Rubin.
Links: Olavius algarvensis unter dem Mikroskop (MPI Bremen und Hydra Institut, Elba, C. Lott). Mitte: Taucher sammeln die Würmer aus Sediment von Seegraswiesen der Mittelmeerinsel Elba.(MPI Bremen und Hydra Institut, Elba, M. Weber). Rechts: Die Sant’ Andrea Bucht auf Elba, in der die Würmer vorkommen. (MPI Bremen und Hydra Institut, Elba, C. Lott).
Olavius algarvensis ist ein so genannter mariner Oligochaet (Wenigborster), der in den oberen zwanzig Zentimetern im sandigen Meeresboden der flachen Küstengewässer vor der Mittelmeerinsel Elba beheimatet ist. Die Forscherin Dr. Nicole Dubilier vom Max-Planck-Institut in Bremen forscht zusammen mit den Mitarbeitern ihrer Symbiosegruppe seit Jahren auf diesem Gebiet. Die anatomische Besonderheit des Wurms ist, dass er nicht nur sein Verdauungssystem komplett reduziert hat, also weder Mund, Magen noch Darm hat, sondern auch keine Nephridien (nierenähnliche Organe) besitzt. Während die Reduktion des Verdauungssystem als Anpassung an symbiontische Mikroorganismen auch von anderen Tieren bekannt ist, sind darmlose Oligochaeten die einzige bekannte Wirtsgruppe, die auch ihre Exkretionssysteme reduziert haben. Das bedeutet für den Wurm, dass alle Prozesse, die mit Nahrungsaufnahme und Abfallentsorgung zu tun haben, von seinen Symbionten erledigt werden müssen. Die metagenomische Analysen offenbarten, wie diese wesentlichen Wirtsaufgaben an den Symbionten ausgelagert werden konnten, ein wunderbares Beispiel für “Outsourcing” von Energiegewinn und Abfallentsorgung.


Metagenomanalyse: Wie neu entwickelte mathematische Computerverfahren den Forschern halfen
Das Genom ist die Gesamtheit der Gene in einem Organismus. In der klassischen Genomanalyse sequenziert man die Erbsubstanz einer bestimmten Art mit Hilfe etablierter Methoden und jedes Jahr publizieren die Wissenschaftler in den Datenbanken hunderte verschiedener Genome. Der klassische Ansatz funktioniert jedoch nicht bei einem Gemisch von verschiedenen Organismen, denn die Zuordnung der Sequenzen ist nicht klar erkennbar. Bei Umweltproben werden daher metagenomische Analysen verwendet. Der Begriff Metagenom umfasst die Gesamtheit der Genome verschiedener Organismenarten.

Bei metagenomischen Analysen ist es stets eine große Herausforderung, das Gemisch an Genomen aus der Umweltprobe einzelnen Arten zuzuordnen. Dieses Problem lässt sich mit einem Beispiel aus der Textanalyse veranschaulichen. Man stelle sich vor, die Bücher verschiedener Autoren seien hoffnungslos durcheinander geraten. Die Texte liegen nur noch in Bruchstücken vor. Aufgabe ist es nun, die ursprünglichen Werke wiederherzustellen. Da jeder Autor einen anderen Schreibstil bevorzugt, kann man die Ursprungstexte mit Hilfe einer statistischen Analyse der Bruchstücke rekonstruieren. Im Genom-“Text“ gibt es jedoch nur vier verschiedene Buchstaben A,G,C,T. Und diese Buchstaben hängen ohne „Punkt“ und „Komma“ aneinander. Dr. Hanno Teeling aus der Arbeitsgruppe Mikrobielle Genomik von Prof. Dr. Frank Oliver Glöckner gelang es nun, mit einem neuen mathematischen Algorithmus, einem Binning-Verfahren, dieses Puzzle zu lösen. Die relativen Häufigkeiten aller 64 möglichen Dreiergruppen von A,G,C und T, aller 256 möglichen Viererkombinationen der Bausteine und die Häufigkeit von G und C innerhalb eines genormten Genomabschnitts unterscheiden sich deutlich je nach Organismenart. Damit ließen sich die Bruchstücke in einzelne Untergruppen, so genannte Bins, differenzieren. Die Fragmente konnten zusammengesetzt, gelesen und somit die einzelnen Genome rekonstruiert werden. Dann konnten die Forscher die jeweiligen Stoffwechsel der Symbionten rekonstruieren und zeigen, welche Stoffwechselwege je nach Umwelteinfluss aktiviert werden könnten.


Was wurde gefunden?
Zwei Schwefelbakterien (Gammaproteobakterien) und zwei Sulfatreduzierer (Deltaproteobakterien) kommen gemeinsam in dem Wurm vor. Die Sulfatreduzierer produzieren reduzierte Schwefelverbindungen, die die Schwefeloxidierer als Energiequelle verwenden können. So füttern sich die Symbionten in einem syntrophen Schwefelzyklus gegenseitig. Überraschenderweise können alle vier Symbionten wie Pflanzen Kohlendioxid fixieren, der Wurm hat sich also ein regelrechtes endosymbiotisches Kraftwerk angelegt. An der Zersetzung von giftigen Stoffwechselendprodukte wie Harnstoff und Ammonium sind auch alle vier Symbionten beteiligt und tragen damit zum Recycling vom wertvollen Stickstoff bei.
Aussichten
Der kleine Wurm macht vor, wie begrenzte Ressourcen durch das Zusammenwirken von aufeinander abgestimmte Mikrobengemeinschaften auf kleinstem Raum effizient genutzt werden können. So könnte die Olavius Symbiose ein Modell für eine sich nahezu selbsterhaltende Biosphäre sein. Vergleichbare Systeme im größeren Maßstab werden intensiv erforscht, um zum Beispiel längere interplanetare Raumfahrten wie die geplante Reise zum Mars bewätigen zu können.



Manfred Schlösser
Referenz:
Tanja Woyke, Hanno Teeling, Natalia N. Ivanova, Marcel Hunteman, Michael Richter, Frank Oliver Gloeckner, Dario Boffelli, Iain J. Anderson, Kerrie W. Barry, Harris J. Shapiro, Ernest Szeto, Nikos C. Kyrpides, Marc Mussmann, Rudolf Amann, Claudia Bergin, Caroline Ruehland, Edward M. Rubin, Nicole Dubilier
Symbiosis insights through metagenomic analysis of a microbial consortium, NATURE, September 2006.

Weitere Informationen:
Joint Genome Institute Pressemitteilung:
http://www.jgi.doe.gov/News/news_9_18_06.html

Max Planck Gesellschaft Pressemitteilung:
http://www.mpg.de/bilderBerichteDokumente/dokumentation/pressemitteilungen/2006/pressemitteilung20060918/index.html

Rückfragen an:
Dr. Nicole Dubilier
+49 421 2028 932 [Bitte aktivieren Sie Javascript]
Max Planck Institute for Marine Microbiology, Bremen 28359, Germany

Dr. Manfred Schlösser ( Pressesprecher)
+49 421 2028 704 [Bitte aktivieren Sie Javascript]
Max Planck Institute for Marine Microbiology, Bremen 28359, Germany
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